Stefan Heiligtag

Andreas Pflüger – Endgültig

Rasant, atemlos und extrem spannend – der erste Band um die blinde Eliteagentin Jenny Aaron.

Klappentext

Jenny Aaron war Mitglied einer international operierenden Eliteeinheit der Polizei – hochintelligent, tödlich effektiv. Doch vor fünf Jahren endete ein Einsatz in Barcelona mit einer Katastrophe: sie erblindete. Seitdem arbeitet sie als Verhörspezialistin beim BKA. Sie versteht es perfekt, zwischen den Worten zu tasten und das dahinter Verborgene zu erspüren. Als ihre früheren Berliner Kollegen sie bei einem Mordfall um Mithilfe bitten, wird Aaron jäh in ihre Vergangenheit gerissen: Reinhold Boenisch, für dessen Verurteilung sie als junge Polizistin sorgte, soll im Gefängnis eine Psychologin getötet haben. Aaron nimmt den Fall an und muss schon bald erkennen, dass Boenisch nur der Anfang ist – eine Schachfigur in einem Komplott. Nach und nach wird ihr offenbar, dass ihr bisheriges Leben eine einzige Vorbereitung auf die folgenden beiden Tage war. Um dieses Leben wird Aaron kämpfen müssen wie nie zuvor.

Meine Meinung

Zwei Dinge haben mich bei diesem Roman von Anfang an in seinen Bann gezogen. Die spannende Ausgangssituation, in der sich Jenny Aaron befindet und der prägnante, souveräne Erzählstil von Andreas Pflüger.

Jenny Aaron ist eine Superagentin in einer Eliteabteilung. Sie ist eine hervorragende Schützin, die beste Kämpferin, die Frau mit der besten Intuition; eine Person, die sich jederzeit ohne zu zögern für andere einsetzen und opfern würde. Sie hat ein fotografisches Gedächtnis, ist überaus intelligent und gebildet, sie ist hübsch und jung und überhaupt nicht arrogant. Nahezu alle Mitglieder ihrer fast ausschließlich aus Männern bestehenden Einheit lieben und respektieren sie.

Andreas Pflüger tat gut daran, diese perfekte James Bond-Ausgangslage schon im ersten Kapitel zu beenden, denn Jenny Aaron verliert bei einem Einsatz ihr Augenlicht. Sie leidet daraufhin an zwei Dingen. Einmal wirft sie sich vor, feige gewesen zu sein, weil sie vor einem Killer flüchtete, statt bei ihrem schwer verletzten Kollegen und Geliebten Niko zu bleiben. Zum anderen leidet sie unter ihrer Behinderung: ihrer Blindheit. Wir lernen eine leidende Heldin kennen, die oft davor stand, sich umzubringen, es jedoch nicht tat, weil sie lernte, ihre anderen Sinne auf eine Art auszuweiten, die normalen Menschen unmöglich erscheint. Pflüger beschreibt keine Unmöglichkeiten, aber eine normale Blinde ist Jenny Aaron nicht. Sie eignet sich die besten Fähigkeiten an, die eine blinde Person überhaupt erwerben kann, wobei Pflüger dann doch übertreibt, wenn Jenny auf einer Schießbahn die sie kennt, mit einer Pistole auf achtzig Meter Entfernung genau ins Schwarze trifft. Die Realität ist:Nur wenige sehende Menschen auf der ganzen Welt treffen über diese Entfernung mit einer Pistole sicher ins Schwarze. Ihr merkt sicher, dass ich hier einen kleinen Kritikpunkt formuliere, der mich aber nur selten genervt hat.

Wahrscheinlich habe ich mich deshalb sofort gut in Jenny Aaron einfühlen können und habe mit ihr gezittert, weil Pflügers Schreibstil exzellent ist. Stimmungen, Figuren- und Ortsbeschreibungen bringt er ebenso wie die Dialoge messerscharf auf den Punkt. Als Beispiel mag die Beschreibung von Jennys Gegenspieler dienen, der ihr zu diesem Zeitpunkt unter dem Namen ›Egger‹ bekannt ist:

»Egger ist groß, hager; geschmeidig trotz der Fünfundvierzig, auf die sie ihn taxiert. Budapester Schuhe. Der Anzug ist maßgeschneidert, der Krawattenknoten messerscharf. Im Knopfloch steckt eine weiße Kamelienblüte. Die Hand, die er ihr reicht, ist manikürt, kühl, glatt. Er hat die Gelassenheit eines Mannes, der Dostojewski im Original liest. Aber die austrainierten Halsmuskeln sind gespannt wie Stahlseile, selbst als er den Kopf nur leicht neigt und mit weicher, sonorer Stimme zu Aaron sagt: ›Auf Sie hätte ich sogar zwei Minuten gewartet.‹«

Im nächsten Beispiel flüchtet Jenny vor ihrem Gegner durch einen Wald. Der Knipser, der in dieser Szene erwähnt wird, ermöglicht es ihr, Hindernisse auf ihrem Weg durch den Wald zu hören, was (wie oben erwähnt) eine Fähigkeit ist, die Blinde erwerben können.

Die Adrenalinfabrik öffnet die Ventile. Aarons Puls prescht in den Schneehimmel. Sie springt auf und sprintet los, den Knipser in der Hand. Schnelle Knacklaute. Zwei Bäume, fünf Meter vor ihr. Sie jagt unter Kiefernzweigen hindurch, die ihr ins Gesicht, in den offenen Mund fetzen. Rennt im Zickzack durch das unsichtbare Labyrinth und knipst im Sekundentakt. Ortet das nächste Hindernis. Nicht kompakt; Gestrüpp. Macht einen großen Sprung, verheddert sich fast in einem Dornengeflecht, bricht aber durch, ohne die Balance zu verlieren. Keine Schüsse. Holm will sie lebend.

Auch die Dialoge zeichnen sich durch eine große Prägnanz aus, und man muss oft zwischen den Zeilen lesen, um zu verstehen, wie Aussagen gemeint sind. In der nächsten Szene fragt ein Freund und Kollege von Jenny (Pavlik) eine Schließerin, wie lange ein bestimmter Gefangener in Einzelhaft gewesen ist. Frau Engelschall schweigt, weil sie keinen ihrer Kollegen anschwärzen will. Er geht daraufhin wie folgt vor:

Pavlik bleibt stehen, zwingt Engelschall damit, es ihm gleichzutun. »Sie sagen den Kollegen: ›Den habe ich auflaufen lassen. Ein blasiertes Abteilungs-Arschloch, das bei mir an die Richtige geraten ist.‹ Alles, was wir reden, bleibt unter uns.«

Ihr Blick flackert. »Eine halbe Stunde war er im Bau.«

»Anweisung von oben?«

Sie nickt nur.

»Wie oft hätte er in Arrest müssen?«

»Ich hab´s nicht mehr gezählt.«

Pavlik geht weiter. »Und wie oft hat er?«

»Kein einziges Mal wurde er bestraft, niemand hat das verstanden.« Die Wut klingt in jedem Wort mit.

Der aus verschiedenen Perspektiven erzählte Plot war für mich von vorne bis hinten spannend. Auch die Konflikte, die in den vielen Nebenhandlungen zur Sprache kamen, haben mich durchweg interessiert. Der Hauptkonflikt besteht zwischen Jenny Aaron und Egger, der mit richtigem Namen ›Holm‹ heißt, der Person, die Aaron geblendet hat.

Zwei Gründe sind dafür verantwortlich, dass ich „Endgültig“ nicht die volle Punktzahl gebe. Es sind drei Ungereimtheiten, auf denen der gesamte Konflikt zwischen Holm und Aaron fußt. Einmal ist es die Feigheit, die Jenny Aaron sich vorwirft und die auch noch dadurch verstärkt wird, dass man in der Eliteeinheit „keinen Kollegen im Stich lässt“. Bei genauerer Betrachtung ist dieses Doktrin, das an allen Ecken und Enden des Romans betont wird, Schwachsinn, weil in Situationen, wo der Find hoffnungslos überlegen ist, die Flucht die beste Option ist. In der Situation, wo Aaron sich Feigheit vorwirft, war der neunzig-Kilo-Mann Niko schwer verletzt. Jennys rechter Arm war taub – von zwei Kugeln getroffen. In ihrer Waffe hatte sie noch eine einzige Kugel, während ein topfitter Profikiller (Holm) mit vollem Magazin auf sie schoss. Natürlich flüchtete sie mit einem Wagen. Wenn man ihr etwas vorwerfen kann, dann, dass sie während der Fahrt nicht den Notarzt rief.

Den zweiten und dritten Punkt kann ich leider nicht ausführen, ohne große Teile der Handlung vorwegzunehmen. Aber für mich fußte die Abhängigkeit zwischen Holm und Aaron auf zu vielen Zufällen, zum Beispiel die Gedächtnislücken Aarons, die sich wunderbarerweise immer genau dann wieder erinnert, wenn es in der Handlung nötig ist. Leider beruht darauf der gesamte Plot, der sonst keinen Sinn machen würde. Es ist Pflügers brillantem Stil zu verdanken, dass dies wenig auffällt. Trotzdem. Auch Holms Verhalten ganz zum Schluss bleibt für mich ein Rätsel, denn er  handelte völlig anders, als er es zuvor ankündigte.

Fazit

Eine faszinierende Heldin, ein rasanter Plot, extreme Spannung und interessante Einblicke in die Fähigkeiten des menschlichen Gehörs. Für Thrillerfans eine unbedingte Leseempfehlung.

                                                              6 von 7 Punkten.

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