Stefan Heiligtag

Annika Büsing – Nordstadt

Gesellschaftsroman und Liebesgeschichte auf 120 schmalen Seiten! Ein faszinierendes Romandebüt!

Klappentext

Im Norden der Stadt hängen die Hoffnungen so tief wie der Novemberhimmel. Wer hier liebt, rechnet nicht mit einem Happy End. Schon gar nicht Nene, Anfang Zwanzig und Bademeisterin, die für das Unglück eine ganz eigene Maßeinheit hat. Ihre Überlebensstrategie: Bahnen ziehen, versuchen zu vergessen, pragmatisch sein. Dann lernt sie im Schwimmbad Boris kennen, der Puma-Augen hat und ihr nicht sofort an die Wäsche will. Boris, der an Kinderlähmung erkrankt war, für den es keine Jobs gibt, nur Schimpfwörter oder Mitleid. Der Schmerzen hat und die Welt mit Verachtung behandelt. Ihr erstes Date wird prompt zum Debakel, aber Nene zeckt sich in Boris’ Herz, und er sich in ihres. Er kapituliert vor ihrer Direktheit und ihrem Lebenswillen, sie vor seinem Entschluss, sein Mädchen glücklich zu machen.

Boris wird für Nene die Geschichtsschreibung ändern, er wird sie anlügen, er wird sie hängenlassen. Ihre Liebe ist wie jede Liebe: nicht perfekt. Aber sie berührt beide auf eine Weise, die sie vergessen oder nie gekannt haben.

Meine Meinung

Annika Büsing gelingt auf 120 Seiten, uns einen authentischen Eindruck vom Lebensgefühl der 25jährigen Nene zu verschaffen, die in sogenannten prekären Verhältnissen aufwuchs – im Norden der Stadt. Vermutlich ist Bochum gemeint, wo die Autorin lebt, vielleicht aber auch Essen oder Dortmund. Jedenfalls wohnen dort die Benachteiligten, und Gewalt und Armut kommen häufiger vor, als im wohlhabenderen Süden. Vor allem Nenes betrunkener Vater, der sie bis zu ihrem 15ten Lebensjahr ständig verprügelte, kommt immer wieder vor. Sie kann und will ihm nicht verzeihen, wie es ihre zwölf Jahre ältere Halbschwester tut, was sie einerseits wütend macht, sie aber auch bewundert.

Der Autorin gelingt es, diese Themen anzusprechen, ohne, dass sie schwer oder bagatellisierend rüberkommen, weil sie der psychisch traumatisierten, aber auch klugen und sensiblen Ich-Erzählerin das alleinige Wort überlässt. Mit ihrer authentischen, lakonischen Stimme porträtiert Nene stilsicher ihre Lage und die Personen, die ihr wichtig sind, wobei sie auf assoziative Weise hin und her springt, also keiner Chronologie folgt.

Der nachfolgende Leseausschnitt gibt euch einen Eindruck davon, wie die Ich-Erzählerin Nene drauf ist.

»Liest du eigentlich jemals ein Buch, Nene?«

Sicher lese ich Bücher. Also manchmal. Mir gefallen Bücher oft nicht. Krimis zum Beispiel finde ich zum Kotzen und alles, wo Menschen sterben oder gefangen gehalten und gefoltert werden. Ich weiß, manche Leute finden das spannend, wenn sie nicht wissen, ob der Protagonist es schafft, das geknebelte Mädchen aus dem Keller zu befreien, bevor Opfer Nummer 13 stirbt und mit einem Schälmesser in feinste Scheiben geschnitten wird. Aber Leute, erstens: Natürlich rettet der Protagonist das letzte Opfer! Und zweitens: Findet ihr das wirklich unterhaltsam, sich dieses arme Geschöpf vorzustellen, das verrückt vor Angst in einem Keller hockt, sich in die Hose pinkelt, während die gefesselten Hände blau werden und sich in ihrem Gehirn eine Angststörung entwickelt, die dafür sorgt, dass Opfer Nummer 13 nie wieder ein normales Leben führen wird? Ist das eine annehmbare Variante von Gut gegen Böse? Ist Spannung ein adäquater Gegenwert der expliziten Darstellung von Perversion und menschlichen Abgründen? Übrigens: Die Begriffe ›Protagonist‹ und ›adäquat‹ und ›explizit‹ habe ich nicht von Alma. Ich habe sie aus der Schule. Hin und wieder habe ich zugehört. Ich hatte einen tollen Deutschlehrer. Er hat uns nicht gehasst, kein bisschen, und er hat uns auch nicht gesagt, dass wir dumm sind. Er hat oft Bücher mitgebracht und daraus vorgelesen. Das kannte ich nicht. Aber es hat mir gefallen.

Wir lernen eine verletzte, wütende junge Frau kennen, die in dem alten Schwimmbad, wo sie als Bademeisterin tätig ist, eine Heimat und einen Anker gefunden hat. Darüber hat sie sich ein besseres Leben aufgebaut, und das hilft ihr, die schlimmen Erfahrungen hinter sich zu lassen .– was nicht heißt, dass sie sie ›verarbeitet‹ hat. Zum Beispiel die Vergewaltigung, die Nene als Siebzehnjährige erlebte und die sie immer wieder beschäftigt.

»Willst du nichts machen?«, fragte ihre beste Freundin Nene danach.

»Doch. Ich will es vergessen«, lautet ihre lakonische Antwort

Zum Schluss  möchte ich noch zwei kleine Kritikpunkte anführen. Für mich wurde nicht ganz klar, worin denn die Anziehung zwischen Nene und Boris besteht – wieso sie sich beide in das Leben des jeweils anderen ›gezeckt‹ haben. Aber vielleicht geht es genau darum, dass man das vielleicht nie genau sagen kann.

Zum Schluss hin hatte ich manchmal Schwierigkeiten mit der Chronologie der Ereignisse, was zwar zu der assoziativen Erzählweise von Nene passt, mir aber manchmal zu durcheinander war. Trotzdem bekommt das Buch von mir eine absolute Leseempfehlung.

Fazit

Auf wunderbar authentische, einfühlsame Weise lässt uns die Autorin das Lebensgefühl der 25jährigen Ich-Erzählerin Nene nachempfinden, die in schlimmen Verhältnissen aufwuchs und es trotzdem schaffte, sich ein lebenswertes Leben aufzubauen. Ein faszinierendes Romandebüt.

                                    6 von 7 Punkten.

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