Klappentext
Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle.
Meine Meinung
Caroline Wahl gelingt es, ein schweres Thema wunderbar leicht zu erzählen. Das liegt zum einen an der Erzählhaltung der schweigsamen Icherzählerin Tilda, deren besondere Sicht auf die Dinge auch den schlimmsten Situationen eine gewisse Komik abgewinnen kann. Es liegt aber auch an der subtilen, differenzierten Beschreibung der Beziehungen zwischen den Hauptfiguren, bei denen das meiste unausgesprochen bleibt. Denn es sind schweigsame Charaktere, angefangen bei Tilda und Viktor, die sich über Tage und Wochen anstarren und zunächst kein einziges Mal miteinander reden. Doch vor allem berührt die wunderbar zärtliche Beziehung von Tilda zu ihrer Schwester, deren Liebe zueinander in jeder Zeile spürbar wird. Diese Liebe schließt auch ihre alkoholkranke Mutter ein, die sich weigert, einen Entzug zu machen.
Einen Eindruck von dem Verhältnis der Familie gibt der folgende Textausschnitt wieder. Tildas Mutter hat sich nach einer Krise einigermaßen berappelt und will den Kontakt zu ihren Töchtern wieder verbessern. Die drei sehen sich gerade ›Die Tribute von Panem‹ an.
Wir sitzen auf dem Sofa, Ida, ich und Mama in der Mitte, und schauen Primrose, Katniss und deren Mutter zu, wie sie sich verabschieden, bevor Katniss zu den Hungerspielen muss. Katniss sagt zur Mutter: »Du kannst dich nicht wieder verkriechen. Du kannst nicht. Nicht so wie nach Dads Tod. Ich bin nicht mehr da. Du bist alles, was sie hat. Egal, wie´s dir geht, diesmal musst du für sie da sein, verstanden?«
Und diese Situation ist so absurd, wie wir 3 auf dem Sofa sitzen, uns die 3 auf dem Bildschirm anschauen und alle dasselbe denken. Während der Abspann läuft, sitzen wir schweigend auf dem Sofa. Während des ganzen Films hat niemand ein Wort gesagt.
Ida: Tilda, du bist wie Katniss.
Ich: Schwachsinn.
Mama: Doch, das dachte ich auch die ganze Zeit. Du bist auch so eine Kämpferin. Und sie sieht dir sogar ähnlich. Dieser böse Blick. Das braune Haar. Niemand würde sich wundern, wenn du mit Pfeil und Bogen rumlaufen würdest. Das passt einfach zu dir.
Ida: Und du würdest dich auch freiwillig melden. Für mich.
Ich: Das ist ein Film, Ida, und du bist auch eine Kämpferin.
Dass Ida den Kopf schüttelt, macht mich traurig.
Mama: Wenn sie sich freiwillig melden würde, wäre ich für dich da, Ida.
Diese Aussage ist so bescheuert. Mama ist so bescheuert.
Ich: Ich werde mich aber nicht freiwillig melden, weil das gerade ein fucking Film war! Und Scheißkonjunktiv-Gelaber bringt uns nirgendwohin, Mama.
Wir schweigen.
Mama: Ich werde mehr für euch da sein.
Ich: Future-Gelaber auch nicht.
Mama: Ich bin mehr für euch da, versprochen, du Frechdachs.
Ida: Noch mehr?
Ich pruste los. Ida ist das lustigste Wesen, das ich kenne.
Mama: Ich bin so eine schlechte Mutter.
Ich lege den Arm um sie, und Ida legt ihren Kopf auf Mamas Schoß. »Ja, das bist du, Mama«, sage ich und streiche ihr in kreisenden Bewegungen über den Rücken.
Tatsächlich spiegelt die Familiensituation in ›Die Tribute von Panem‹ die von Tilda, Ida und ihrer Mutter gut wider, wobei nur der Vergleich zwischen den Müttern hinkt. Sie ist durch eine tiefe Liebe geprägt und durch einen Realismus im Hinblick darauf, was von den Versprechungen ihrer Mutter zu halten ist.
Dass Tilda ein besonderer Charakter ist, zeigt sich in ihrem Umgang mit Viktor. Beide sind extrem schweigsame Einzelgänger.
Die erste Annäherung geschieht im Schwimmbad, wo beide sich mehrmals wöchentlich sehen und beide sich dabei beobachten, wie sie ihre 22 Bahnen schwimmen. An dem Tag, an dem der Textausschnitt spielt, ist für Tilda aber kein Schwimmbadwetter, sondern Schwimmringwetter. Das heißt, Tilda liegt in ihrem Ring im Wasser und sieht den Wolken zu, die sich am stahlblauen Himmel bewegen.
Viktor nickt mir am Mittwoch und Donnerstag zu. Ich nicke am Donnerstag zurück, und am Freitag führen wir dann unsere 1. Normale Unterhaltung, wie sie eben normale Menschen in unserem Alter führen. Aber was heißt schon normal.
…
In dem Moment, in dem die Sonne ganz weg war, tauchte Viktor auf. Sein Kopf war auf einmal neben mir mit seinen leuchtenden Augen. Er hielt sich wie ich an der Schwimmleine fest und grinste mich an.
Viktor: Na, genießt du mal wieder die Sonne?
Seine raue Stimme.
Ich: Das war zumindest der Plan.
Stille.
Viktor: Immer wenn die Sonne eigentlich nicht da ist, liegst du in diesem Schwimmring?
Ich schaue ihn an. Kein Grinsen mehr. Ein fragender Blick, zusammengezogene Augenbrauen. Ich schließe die Augen, und weil es ihn wirklich zu interessieren scheint, versuche ich es 1-mal: »Wegen dieser Momente, wenn die Sonne sich zeigt.«
Stille.
Viktor: Genießt man die Sonne mehr, wenn man die kalten Wolken gewohnt ist?
(Tilda gibt ihm eine lange, nicht unbedingt verständliche Antwort.)
Er nickt wieder, als wäre das, was ich gesagt habe, komplett sinnvoll und logisch.
Viktor: Wie heißt du überhaupt.
Ich weiß, dass er mich kennt, und er weiß, dass ich ihn kenne. Aber vielleicht hat er meinen Namen vergessen.
Ich: Tilda, und du?
Er streckt mir seine Hand hin: »Viktor.«
»Mit K oder mit C«, frage ich, um zu signalisieren, dass ich keinerlei Gedanken an ihn verschwendet habe.
Viktor: Mit K.
»Schön«, sage ich, ergreife die Hand und schaue ihm in die eisblauen Augen. Seine Hand ist stark und fühlt sich warm an, obwohl sie kalt und nass ist.
Viktor: Was ist das für eine Narbe unter deinen Augen?
Was ist das für eine unangebrachte Frage?
»Fahrradunfall«, lüge ich.
Dann schaut er auf meine Lippen, wie es Menschen manchmal machen, wenn sie ihr Gegenüber küssen möchten. Eigentlich hasse ich diesen Blick. Ich hasse diesen Blick.
Viktor: Deine Lippen sind blau. Die Sonne kommt heute nicht mehr. Du solltest gehen, sonst erkältest du dich. Bis dann.
Bevor ich etwas erwidern kann, verschwindet sein Kopf unter Wasser, und er taucht zum Beckenrand, er stützt sich auf und steigt aus dem Becken, duscht sich kurz ab und verschwindet in einer Kabine.
Viktor ist noch schweigsamer als Tilda. Über seine Beweggründe erfahren wir nur indirekt etwas. Seine extreme Zurückhaltung Tilda gegenüber hat sich mir bis zum Ende nicht erschlossen und ist mein einziger wichtiger Kritikpunkt an diesem wunderbaren Buch, das ich uneingeschränkt empfehlen möchte.
Fazit
Berührend und wunderbar leicht erzähl Caroline Wahl den herausfordernden Alltag der stacheligen Protagonistin Tilda, die ihre kleine Schwester vor ihrer alkoholkranken Mutter schützen will. Es ist ein Buch, das einem die Hoffnung gibt, dass alles gut werden kann, so schlimm die Verhältnisse auch sein mögen.