Klappentext
Sechs Lebenswege, die sich unmöglich kreuzen können: darunter ein amerikanischer Anwalt, der um 1850 Ozeanien erforscht, ein britischer Komponist, der 1931 vor seinen Gläubigern nach Belgien flieht, und ein koreanischer Klon, der in der Zukunft wegen des Verbrechens angeklagt wird, ein Mensch sein zu wollen. Und dennoch sind diese Geschichten miteinander verwoben. Mitchells originelle Menschheitsgeschichte katapultiert den Leser durch Räume, Zeiten, Genres und Erzählstile und liest sich dabei so leicht und fesselnd wie ein Abenteuerroman.
Meine Meinung
David Mitchell hat mit dem Wolkenatlas einen in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Roman geschrieben. Er enthält sechs Geschichten, die in unterschiedlichen Epochen und an unterschiedlichen Orten spielen und die thematisch und durch ein paar Hinweise lose miteinander verbunden sind. Die Genres der Geschichten reichen vom Abenteuerroman über die Schelmengeschichte bis zum Science Fiction. Ähnlich verschieden sind auch die Hauptfiguren, die sich charakterlich und durch ihre Sprache deutlich voneinander unterscheiden. Mitchel erzählt die Geschichten beginnend in der Mitte des 19. Jahrhunderts chronologisch jeweils bis zur Hälfte und danach jeweils rückwärts in die Vergangenheit laufend bis zu ihrem Ende.
Aufgrund dieser Konstruktion ist die erste Geschichte, in der es um einen amerikanischen Forschungsreisenden geht, der sich im Jahr 1849 auf einem Dreimaster von Sidney nach San Francisco einschifft, diejenige, mit der das Buch endet. Die Geschichte in der Mitte des Buches spielt in einer fernen Zukunft. In ihr beschreibt ein namenloser Ich-Erzähler eine Welt, die auf ein Zivilisationsniveau ohne technische Errungenschaften zurückgefallen ist.
Die zweite Geschichte besteht aus Briefen, die ein talentierter britischer Musiker an seinen Freund schreibt. In ihnen berichtet er, wie er vor seinen Gläubigern zu einem bekannten Komponisten nach Belgien flieht, den Irrungen der Liebe verfällt und dort das Wolkenatlas-Quintett komponiert, das dem Roman seinen Namen gibt. In Geschichte Nummer 3 macht ein Atomwissenschaftler in der 1970er Jahren eine Journalistin auf Sicherheitslücken an einem neuartigen Atommeiler aufmerksam. Hauptfigur der vierten Geschichte ist ein Verleger von Schundliteratur, der gegen seinen Willen in einem Altersheim landet, und Nummer 5 spielt in der nahen Zukunft. Sie handelt von einer geklonten Koreanerin, die ein Mensch sein will und deshalb verhört wird.
Die Geschichten sind zum einen thematisch miteinander verbunden, zum anderen durch Personen, Ereignisse und Gegenstände. So findet der Held der zweiten Geschichte das Tagebuch des Forschungsreisenden aus der ersten Geschichte, und er schreibt einem Freund, der in der dritten Geschichte eine der Hauptfiguren ist. Diese Verbindungen ziehen sich über alle sechs Geschichten, aber sie sind so fein, dass man weder von einer Kausalität noch von einer einzig plausiblen Interpretationsmöglichkeit sprechen kann. Sie weisen höchstens darauf hin, dass alles mit allem verbunden ist. Vielleicht auch unsere Seelen. Darauf verweist zumindest ein Zitat in der Mitte des Buches:
»Von unten aus dem Kajak sah ich den kwabbelichen Wolken zu. Seelen wandern durch die Zeiten wie die Wolken übern Himmel, un wenn ner Wolke ihre Form un Farbe un Größe auch nie dieselbe bleibt, is sie doch immer ne Wolke, un genauso isses mit ner Seele auch. Wer weiß schon, von wo ne Wolke hergeweht is un was fürn Mensch ne Seele morgen sein wird? Nur Somni, der Osten un der Westen un der Kompass un der Atlas, ja nur der Atlas von den Wolken.«
Ich deute den Wolkenatlas so, dass Mitchell in ihm die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der westlichen Zivilisation thematisiert; genauer gesagt: die Brutalität, die Lügen und die Ausbeutung, die ein fester Bestandteil von ihr ist und die zeigt, wie schmal der Grad zwischen Kultur und Barbarei in Wirklichkeit ist. Wenig überraschend, dass Mitchell die letzte Geschichte in einer Dystopie enden lässt.
Aber das ist sicher nur eine Deutungsmöglichkeit. Das Buch gibt jedem Leser, jeder Leserin die Freiheit, sich einen eigenen Reim darauf zu machen, ob und wie die Geschichten zusammenhängen und wie man das Ganze interpretieren soll.
Die unterschiedlichen Erzählstile und -perspektiven haben mir meistens viel Vergnügen bereitet. Vielleicht mit einer Ausnahme, die ich aber nicht als Kritik verstanden wissen möchte, sondern als Beleg dafür, wie virtuos Mitchell verschiedene Erzählperspektiven und -sprachen zu handhaben weiß. In der Geschichte, die am weitesten in der Zukunft spielt, ist der Ich-Erzähler ein Schafhirte. Wenn er erzählt, müssen wir uns konzentrieren, um die Bedeutung des Gemeinten zu verstehen. Zur Veranschaulichung ein Zitat:
»Meronym wekselte meinn blutichen Verband, den Schmerz hatte sie mit irgnner Clevermedizin fast taub gemacht.« Andererseits beweist diese ungewöhnliche Erzählsprache
Fazit
In einer virtuosen, facettenreichen Sprache erzählt David Mitchell sechs Geschichten aus sechs Epochen, die auf geheimnisvolle Weise miteinander verwoben sind und uns darauf hinweisen, wie unsere westliche Zivilisation enden kann.