Klappentext
Chase Andrews stirbt, und die Bewohner der ruhigen Küstenstadt Barkley Cove sind sich einig: Schuld ist das Marschmädchen. Kya Clark lebt isoliert im Marschland mit seinen Salzwiesen und Sandbänken. Sie kennt jeden Stein und Seevogel, jede Muschel und Pflanze. Als zwei junge Männer auf die wilde Schöne aufmerksam werden, öffnet Kya sich einem neuen Leben – mit dramatischen Folgen.
Meine Meinung
Dieses Buch hat etwas Märchenhaftes. Es beschreibt auf berührende Weise, wie die junge Kya nahezu allein im Marschland an der Küste von North Carolina seine Kindheit und Jugend und ihre Zeit als junge Erwachsene verbringt. Ihre Ausgangssituation ist furchtbar: Kya ist sechs Jahre alt, als ihre Mutter die Familie wegen ihres sie schlagenden, alkoholsüchtigen Ehemanns verlässt. Doch zu Kyas Entsetzen verlassen kurz darauf auch noch ihre vier deutlich älteren Geschwister die Hütte, in der sie gelebt haben. Sie bleibt allein mit ihrem Vater zurück. Ihr Vater spricht zwar kaum mit ihr, aber er erweist sich immerhin als so zugänglich, dass er ihr das Fischen und andere Tätigkeiten des Überlebens beibringt. Doch als Kya zehn Jahre alt wird, ist er plötzlich verschwunden. Nun muss Kya ohne ihn (und vor allem ohne die Rente, die er bezogen hat) auskommen. Spätestens jetzt geht es um ihr Leben und Überleben. Es ist bewundernswert, wie sie sich durch das Sammeln von Krabben und das Fischfangen über Wasser hält, denn sie kann einen Teil davon an einen Ladenbesitzer verkaufen, der ihr wohlgesonnen ist.
Die Handlung spielt auf zwei Zeitebenen, die sich im Laufe des Romans Kapitel für Kapitel aufeinander zubewegen. Fast dreiviertel der Handlung nimmt Kyas Entwicklung als Mädchen, Teenager und junge Frau ein. Der zweite Erzählstrang, Kya ist 25 Jahre alt, ist eine Kriminalgeschichte, in der es darum geht, den Tod von Andrew Chase aufzuklären. War es Selbstmord oder Mord? Und wenn es Mord war, wer ist es gewesen? Dieser Handlungsstrang ist insofern interessant, als er aus der Sicht des Sheriffs und weiterer Personen des kleinen Ortes Barkley Cove geschrieben ist und somit einen anderen Blick auf das ‚‘Marschmädchen‘ wirft, wie Kya in dem Städtchen genannt wird.
Mindestens ebenso wichtig, wie die beiden Erzählebenen sind die Naturbeschreibungen des Marschlandes, denn mit diesem Buch feiert Delia Owens die Natur. Dass sie rein fachlich etwas davon versteht, beweist ihre zwanzigjährige Forschungstätigkeit in Afrika, aber was noch wichtiger ist: Es gelingt ihr, uns in einer präzisen, manchmal poetischen Sprache, die Geheimnisse des Marschlandes und des Lebens, das sich darin abspielt, näherzubringen. Das ist kein Selbstzweck, denn für Kya ist die Natur nicht nur etwas, das ihren Bedürfnissen dienen soll. Sie empfindet sie als ihre eigentliche Heimat. Nur dort fühlt sie sich geborgen, und es liegt ihr fern, sich in sie einzumischen oder sie gar zu zerstören. Die Natur hilft ihr auch, ihr Bedürfnis nach menschlicher Zuwendung zu kompensieren, indem sie sich intensiv mit ihr beschäftigt und regelrecht in sie eintaucht. Welches Ausmaß das annimmt, soll hier nicht verraten werden. Jedenfalls lernen wir nebenbei eine ganze Menge über die Natur im Allgemeinen und das Marschland im Besonderen, und Kya zieht ungewöhnliche, oft wunderbar treffende Vergleiche zwischen dem Verhalten von Tieren und Menschen: nicht nur über das Balzverhalten, sondern auch über die Akteure einer Gerichtsverhandlung, in der sie den Richter mit dem Alphamännchen eines Rudels vergleicht, während der Staatsanwalt sich als junger Möchtegern präsentiert, der von den übrigen Anwesenden nicht ganz ernst genommen wird.
Die Zeichnung der Hauptfigur Kya ist Delia Owens aus meiner Sicht rundum gut gelungen. Auf 450 Seiten zittern wir mit ihr. Wir fühlen mit, wenn die Sechsjährige mit einem Dollar im Laden steht und nicht weiß, wie viel die Münzen wert sind. Wir spüren ihre Verzweiflung, wenn hämische Jugendliche sich über sie lustig machen und wenn die Fünfzehnjährige von einer weiteren wichtigen Person im Stich gelassen wird. Wir verstehen, warum sie so ist, wie sie ist.
Auch die anderen wichtigen Figuren sind gut gezeichnet. Leider gilt das, worin ich den ersten kleinen Schwachpunkt des Buches sehe, für die beiden männlichen Hauptfiguren nicht durchgängig. Die erste ist Andrew, der junge Mann, dessen Tod aufgeklärt wird. So wie er gezeichnet ist, ist schwer nachzuvollziehen, wieso er sich ein ganzes Jahr lang intensiv um Kya bemüht und einen enormen Zeitaufwand dafür betreibt, mit ihr zusammen zu sein. Ich darf hier keine weiteren Details benennen, um nicht zu viel von der Handlung vorwegzunehmen, aber für mich ist offensichtlich, dass Andrew sich an dieser und an einer weiteren Stelle des Buches nur so verhält, damit es überhaupt zu der Kriminalhandlung kommen kann. Dasselbe gilt für die zweite männliche Hauptfigur. So wie sie über den ganzen Roman gezeichnet ist, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie Kya in jener einen Situation im Stich lässt, aber es war notwendig, weil es sonst keine Kriminalhandlung gegeben hätte.
Der zweite Schwachpunkt bezieht sich auf die Kriminalhandlung selbst. Sie ist kunstvoll gezeichnet und auch sehr gut beschrieben, aber die gefundene Lösung ist extrem unwahrscheinlich, was leicht zu vermeiden gewesen wäre. Die Veränderung einiger weniger Tatbestände hätte die Lösung absolut plausibel gemacht.
Es ist ein handwerklicher Mangel, den ich nicht als wesentlich erachte, denn erstens ist Delia Owens keine Krimiautorin und zweitens macht die Kriminalhandlung nicht das Wesentliche des Buches aus. Viele Leserinnen und Leser, die in Kyas Welt eingetaucht sind, werden sie ihr gerne verzeihen, wenn sie es überhaupt bemerkt haben.
Fazit
Ein schriftstellerisch reifes Erstlingswerk, in dem es der Autorin gelingt, uns von der ersten Seite an für ihre junge Heldin einzunehmen, eine spannende Krimihandlung und ein Buch, das die Natur mit all ihren Wundern feiert.
2 Antworten
Mich hat dieses Buch auch mehr als gefesselt, besonders durch die Beschreibung der Natur und der unvorstellbarer Armut der Hauptdarstellerin. Interessant finde ich den Hinweis, dass die zweite männliche Hauptfigur den Fehler nicht begangen hätte, Kya in der einen Situation allein zu lassen. Ich kann mir das durchaus vorstellen, weil sie vielleicht nicht standesgemäß genug war bzw. nicht mehr hätte an ein so genanntes zivilisiertes Leben herangeführt werden können. Zusammen mit ihr zu leben hätte bedeutet, seinen Traum des Studiums aufzugeben?
Besonders gefallen hat mir, ohne zu viel zu verraten, wie Kya dann ihr Geld verdient. Nur so viel: es hat auch etwas mit der Faszination Buch zu tun.
Ein wirklich lesenswertes Buch, was noch lange nach klingt.
Hallo Christiane,
gerade lese ich deinen Beitrag, und ich stimme dir im Grunde in allem zu.
Was ich meinte, als ich schrieb, dass die die zweite männliche Hauptfigur den Fehler nicht begangen hätte, bezieht sich darauf, dass der Mann es Kya nicht erklärt hat. Dass er hinterher nicht mehr mit ihr gesprochen hat, halte ich für extrem unwahrscheinlich, so einfühlsam, wie er beschrieben wurde.
Liebe Grüße
Stefan