Stefan Heiligtag

Die Deutschlehrerin – Judith Taschler

Ein zutiefst menschliches Psychodrama, dessen Ende mich wirklich überrascht hat

Klappentext

Mathildas große Liebe, Xaver, hat sie verlassen. Eines Tages, einfach so, hat er alle seine Sachen gepackt und ist grußlos verschwunden. Mathilda erleidet einen Nervenzusammenbruch und erholt sich nur langsam, da das Rätsel um Xavers Motive sie nicht loslässt. Nach über sechzehn Jahren scheint sie nun ihren Platz im Leben gefunden zu haben: Sie ist Deutschlehrerin in einer anderen Stadt, beliebt bei ihren Schülern, sie hat Freundinnen und ein eigenes Leben. Da taucht Xaver, inzwischen gefeierter Jugendbuchautor, plötzlich wieder auf, und die beiden rekapitulieren sowohl ihre Beziehung als auch deren Ende. Die Geburt von Xavers Sohn nur wenige Monate nach der Trennung, dessen Entführung und der nicht geklärte Verbleib des Jungen wird zum Angelpunkt der Begegnung der einstmals Liebenden. Immer weiter spinnen sie ihre Vorstellungen, Ängste und Fantasien, bis am Ende keiner mehr vom anderen weiß, ob er die Wahrheit sagt: Hat Mathilda Xavers Sohn entführt? Hat Xaver mehr mit dem Verschwinden seines Sohnes zu tun, als er zugibt? Ein vielschichtiger Psychothriller, raffiniert, irritierend und bis zum letzten Moment fesselnd.

Meine Meinung

Dieser rund 200 Seiten kurze Roman hat eine andere Art von Thrill, als die meisten anderen Bücher in diesem Blog. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Deutschlehrerin Mathilda und der Jugendbuchautor Xaver, die von 1980 bis 1996 ein Paar waren und sich nach sechzehn Jahren bei einer Schreibwerkstatt in Mathildes Schule wiedersehen.

Ich möchte zunächst darlegen, was mir nicht so gut gefallen hat, was von der Autorin aber vielleicht beabsichtigt war. Nämlich dass ich den Anfang ein wenig langweilig fand. Wir müssen viele E-Mails lesen und lernen darüber die beiden Hauptfiguren kennen und dass sie die Vergangenheit, vor allem ihre Beziehung, sehr unterschiedlich interpretieren. Insbesondere bei Xaver fragte ich mich, ob er nicht manchmal bewusst eine geschönte Version seines Handelns behauptet. Ich hatte mir über die beiden recht schnell eine so klare Meinung gebildet, dass ich  dachte, ich wüsste, wie das Buch ausgeht. Fast hätte ich den Roman nach 50 Seiten weggelegt.

Ich bin froh, weitergelesen zu haben, und das Ende war dann völlig anders, als ich dachte. In „Die Deutschlehrerin“ entfaltet sich vor unseren Augen nicht nur die Geschichte von zwei Personen, die 16 Jahre ein Paar waren, sondern ein ganzer Geschichtenkomplex. In verschiedenen Handlungssträngen, spielen auch die Eltern und Großeltern der beiden Hauptfiguren und deren Häuser eine Rolle. Und in deren Geschichten spiegeln sich bestimmte Facetten dessen, was Xaver und Mathilda  miteinander erlebten. Nach und nach erfahren wir, dass er Mathilda nach sechzehn Jahren nicht nur ohne ein Wort der Erklärung verließ, sondern, dass er sie Monatelang betrogen und mit seiner zukünftigen Frau einen Sohn gezeugt hatte. Dieser Sohn wird später entführt werden, wobei nie geklärt wurde, was genau geschehen war.

Was mich beeindruckt hat, war die Leichtigkeit, mit der die Autorin zwischen den Zeitebenen wechselt, denn das Buch ist nicht chronologisch geschrieben, was neue Spannungsbögen aufwirft. Wir fragen uns zum Beispiel, wieso sich Xaver einem polizeilichen Verhör unterzieht, das kurz nach dem Workshop stattfindet. 

Es ist vor allem Mathilda, die Xaver Fragen stellt. Warum hat er sie verlassen? Wieso hat er es heimlich getan und sich nie mehr bei ihr gemeldet? Was ist mit seiner Frau und seinem Sohn passiert? Es folgen Rede und Gegenrede, und  wir Leser bilden uns eine Meinung, wie sich die Ereignisse abgespielt haben. Es geht in diesem Roman um Wahrheit und Schein, aber auch darum, was wirklich wichtig ist, wenn man auf sein Leben zurückblickt und sich fragt, ob man Dinge hatte anders machen sollen, oder nicht.

Mich hat das Ende sehr bewegt. Einmal, weil ich es so nicht erwartet hätte, aber vor allem, weil wir die Protagonisten mit allen ihren Wünschen, Fehlern und Schwächen als zutiefst menschlich erleben. Wen so etwas interessiert, für den ist dieses Buch eine unbedingte Leseempfehlung.

Zuletzt  möchte ich noch auf den Klappentext eingehen, der in der neuesten Version des Buches so bei Amazon steht. Die reißerischen Fragen in der zweiten Hälfte  suggerieren fast, dass wir es im Kern mit einer Krimihandlung zu tun haben, was nicht der Fall ist. 

Ein kleines Manko waren die doch arg auktorialen Einschübe, in denen die Autorin erklärte, wie die beiden Hauptfiguren sind und wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen herrschen. Ich habe das als störend und auch überflüssig empfunden, weil es sich aus den übrigen Texten sowieso ergeben hat.

Fazit

Auf rund 200 Seiten entwirft die Autorin eine komplexes Gedankenpuzzle, in dem die beiden Protagonisten darum ringen, was wahr und was falsch ist. Beide werfen einen Blick zurück auf ihr  Leben, und es kommt zutage, was wirklich wichtig ist.

                                                          5 von 7

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