Stefan Heiligtag

Eliot Pattinson – Der fremde Tibeter

Ein Roman und Kriminalroman der Extraklasse, der vor dem Hintergrund der Besatzung Tibets durch die Chinesen spielt

Klappentext

Fernab in den Bergen von Tibet wird die Leiche eines Mannes gefunden – den Kopf hat jemand fein säuberlich vom Körper getrennt. Shan, ein ehemaliger Polizist, der aus Peking nach Tibet verbannt wurde, soll rasch einen Schuldigen finden, bevor eine amerikanische Delegation das Land besucht. Immer tiefer dringt Shan in die Geheimnisse Tibets ein. Er findet versteckte Klöster, Höhlen, in denen die Tibeter ihren Widerstand organisieren – und muss sich bald entscheiden, auf welcher Seite er steht.

 

Meine Meinung

Dieses Buch bekam im Jahr 2000 den Edgar Allen Poe Award in der Kategorie „Bester erster Roman“. Aber es ist auch ein Kriminalroman, denn zu Beginn des ersten Kapitels finden die Zwangsarbeiter der 404 Baubrigade eines chinesischen Straflagers eine Leiche ohne Kopf. Dieses Verbrechen muss schnell aufgeklärt werden. Zum einen verweigern die tiefreligiösen Strafgefangenen die Arbeit, bis der Geist des Toten zur Ruhe gekommen ist. Zum anderen hat dieser Mord eine politische Dimension, weshalb Oberst Tan den Häftling Shan beauftragt, den Mord aufzuklären; dieser war ein erfahrener Ermittler in Peking, bevor er. Verbannt wurde.

Ob Roman oder Kriminalroman – beides ist richtig. Jedenfalls benutzt der Autor den Kriminalfall als Hintergrund, um uns die tibetische Kultur vor Augen zu führen. Zum Beispiel sind die Strafgefangenen überwiegend ehemalige tibetische Mönche. Als sie erfahren, dass jemand gestorben ist, knien sie sofort nieder und rufen den Bardo an, die Eröffnungsrezitation der Todeszeremonien. Trotz der Schläge ihrer chinesischen Aufpasser rezitieren sie weiter statt zu arbeiten.

Eliot Pattison kennt sich mit der tibetischen Kultur aus. Er kennt die Namen der zahlreichen Götter, die Symbole, die sie kennzeichnen, die religiösen Riten usw., und er bringt all das in die Handlung ein. Besonders gelungen sind die anschaulichen Darstellungen der friedfertigen, gläubigen Tibeter und was ihre Besatzer mit ihnen anstellen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Chinesen ein großes Unrecht an diesen friedfertigen Menschen begehen, indem sie sie einsperren, ihnen Umerziehungsmaßnahmen aufzwingen und nahezu alle Kulturgüter Tibets zerstören. Die tibetische Religion und die chinesische Besatzung Tibets hängt zwar immer mit der Kriminalhandlung zusammen, doch beides nimmt einen großen Raum in dem Buch ein. Wer sich dafür gar nicht interessiert, sollte es besser nicht lesen.

Dabei ist die Krimihandlung spannend und komplex. Bei dem Toten handelt es sich nämlich um den Polizeichef des Bezirks Lhadrung, der nicht beliebt war. Viele Tibeter hätten einen Grund, ihn umzubringen, aber mindestens ebenso viele Chinesen, denn der Mord hat nicht nur religiöse, sondern auch politische und wirtschaftliche Hintergründe, und darüber hinaus halten sich amerikanische Wissenschaftler in der Provinz auf, die etwas mit dem Fall zu tun haben könnten.

All dies muss Chan, die Hauptfigur des Romans, bei seinen Ermittlungen verstehen und berücksichtigen. Was der Handlung zusätzliche Spannung verleiht, ist die Basis, aufgrund derer er die Ermittlungen durchführt. Als Häftling steht Shan in seinem Rang noch unter dem niedrigsten Tibeter. Dass er ermitteln darf, liegt allein daran, dass Oberst Tan ihn dazu auffordert. Er ist die höchste chinesische Autorität in der Provinz und steht unter einem extremen Zeitdruck. Er muss den wahren Täter finden und weiß, dass Shan der einzige Mensch in der Provinz ist, der die dazu nötige Fachkompetenz besitzt. Denn Shan war in Peking der Generalinspektor des Wirtschaftsministeriums und klärte dort spektakuläre Korruptionsfälle auf. Oberst Tan stellt seinem Ermittler zur Unterstützung einen Tibeter an die Seite, wobei schnell klar wird, dass der ihm auf die Finger schauen soll. Im Gegensatz zu vielen anderen hat sich dieser Tibeter mit der chinesischen Herrschaft arrangiert und will im Sinne des chinesischen Systems tätig werden. Shan muss einige Hürden überwinden, um auch mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden.

Zum Schluss möchte ich noch eine weitere Stärke des Buches hervorheben: das komplexe Beziehungsgeflecht und die Charaktere der Hauptfiguren. Shan, der durch eine politische Intrige ins Straflager kam, beeindruckt nicht nur durch seine kriminalistische Kompetenz, sondern durch seine große Menschlichkeit. Er versteht die chinesische Perspektive, ist aber im Herzen ein tiefreligiöser Mensch, weshalb er sich intensiv mit der tibetischen Religion und Kultur beschäftigt und mit ihr sympathisiert. Er ist eine absolute Identifikationsfigur.

Es gelingt dem Autor auch bei den anderen Figuren hervorragend, deren Motivationen nachvollziehbar zu machen. Wohl deshalb hat mich der Schluss so beeindruckt, wo sich einige wichtige Personen glaubwürdig verändern.

 

Fazit

Ein gut geschriebener Roman vor dem komplexen politisch-religiösen Hintergrund des von China besetzten Tibets und ein spannender Kriminalroman mit einer durch und durch sympathischen Hauptfigur. Eine absolute Leseempfehlung.

                                                    7 von 7

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