Stefan Heiligtag

Hervé Le Tellier – Die Anomalie

„Eine brillante Mischung aus Thriller, Komödie und großer Literatur!“

Klappentext

Dasselbe Flugzeug landet zweimal, die Passagiere gibt es doppelt. Was tun, wenn man sich plötzlich selbst gegenübersteht? Ein exquisites Spiel mit Sinn und Unsinn, so facettenreich wie schwindelerregend, geradezu bewusstseinsverändernd. Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, stürmte dieser Roman die französischen Bestsellerlisten.

Meine Meinung

Jemand, der den Klappentext und die vielen Rezensionen über dieses Buch nicht gelesen hat, könnte zu Beginn des Romans verwirrt sein, um welches Genre es sich handelt. Im ersten Kapitel lernen wir einen Auftragsmörder kennen. Wir erleben, wie er einen Menschen umbringt, um danach in seine Alltags-Identität als Familienvater und Restaurantbesitzer zurückkehrt. Handelt es sich also um einen Thriller? Wir zweifeln daran, als wir im zweiten Kapitel mit dem Schriftsteller Victor Miesel bekanntgemacht werden. Ähnlich wie im ersten Kapitel erfahren wir viel über dessen Leben, doch die einzige Parallele zwischen diesen beiden Figuren ist die Tatsache, dass sie im März einen Flug von Paris nach New York gemacht haben, auf dem es so starke Turbulenzen gab, dass das Flugzeug abzustürzen drohte. Victor Miesel wird durch dieses Ereignis derart aus der Bahn geworfen, dass er ein Buch mit dem Titel „Die Anomalie“ schreibt und kurz darauf Selbstmord begeht.

Im weiteren Verlauf lernen wir viele weitere Personen kennen: eine Cutterin, deren zehnwöchige Beziehung mit einem 30 Jahre älteren Mann an ihr Ende gekommen ist, einen Flugkapitän mit einer tödlichen Krebsdiagnose, ein junges Mädchen, das ein schreckliches Geheimnis hat, einen afrikanischen Sänger und eine schwarze Spitzenanwältin, die sich gerade verliebt hat. Inzwischen ist es Juni geworden, und die meisten dieser Personen werden am Ende ihres Kapitels von der Polizei vorgeladen. Als LeserIn, die den Klappentext noch nicht gelesen hat, wundern wir uns über diese Vorladungen. Erst nach und nach erfahren wir, dass das exakt gleiche Flugzeug mit den exakt gleichen Passagieren und der exakt gleichen Besatzung im Juni noch einmal nach New York fliegt und dass das FBI sowie ein hochrangiges Wissenschaftsteam mit der Untersuchung dieses Vorfalls beauftrag ist, weshalb das Juni-Flugzeug auf den amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Mc Guire umgeleitet wird. Der Vorfall, die Anomalie besteht darin, dass 243 Personen doppelt existieren. .

Für ein nicht mal 350 Seiten dickes Buch konfrontiert uns Le Tellier mit einer Vielzahl von Personen, was für manche LeserIn anstrengend, vielleicht verwirrend sein mag. Das könnte langweilig und nebeneinandergestellt rüberkommen, aber ich hatte nie das Gefühl, den Überblick zu verlieren. Mir war immer sofort klar, um welche Person es ging. Dass ich immer mit ganzem Interesse dabei war, liegt neben den exzellenten schriftstellerischen Qualitäten des Autors wahrscheinlich an zwei weiteren Punkten: Er stellt alle seine Figuren in Konfliktsituationen, die sie zu bewältigen haben. Außerdem lockt er uns mit seinem Humor. Nicht nur der amerikanische Präsident und die chinesische Führung, auch das FBI und weitere Amtsträger bekommen auf subtile Weise ihr Fett weg. Herrlich ist zum Beispiel das Treffen der Religionsführer, die sich, moderiert durch eine Psychologin, mit der Frage beschäftigen, was es für das Konzept der „Seele“ bedeutet, dass eine Person zweimal existiert.

An vielen Stellen des Textes benutzt Le Tellier Filmzitate. Witzig ist zum Beispiel die Befragung des im Juni von den Toten wiedererweckten Victor Miesel durch das FBI. Der Beamte ist an einen Fragenkatalog gebunden, der auf obskure Weise zustande gekommen ist und der ihn zwingt, den „doppelten“ Passagieren Fragen zu stellen wie: „Hören Sie dauerhaft angenehme, melodische Geräusche?“ oder „Haben Sie Irritationen an Augen und Nasennebenhöhlen?“, woraufhin Miesel ärgerlich zurückblafft: „Sie machen sich über mich lustig! Glauben Sie, das hier ist eine Begegnung mit der dritten Art? … Fünfmal habe ich den Film von Spielberg gesehen. Ich kenne ihn auswendig: Sie stellen mir die Fragen, die Francois Truffaut Richard Dreyfuss stellt. Wortwörtlich. Welcher Vollidiot hat diesen Fragebogen erstellt?“

Was den besonderen Reiz des Buches ausmacht ist die überaus facettenreiche Darstellung, wie die einzelnen Figuren mit ihrem Doppelgänger umgehen. Weil ich niemandem das Vergnügen nehmen möchte, das selbst zu lesen, schweige ich hier, aber dieser Teil des Buches hat mir ganz besonders gut gefallen.

Dieser Roman beschäftigt sich mit unterschiedlichsten Themen, sodass es schwerfällt, sich für eines zu entscheiden. Ein Schwerpunktthema ist sicherlich die eben angesprochene existenzialistische Ebene: Wie ist es, einer Person zu begegnen, die alles über mich weiß? Wie ist es, wenn ich mir selbst gegenüberstehe? Ein zweites Thema ist die Reaktion von Kirchenvertretern, Politikern und Gesellschaft auf das Phänomen, dass eine Person doppelt existiert. Im dritten Teil des Romans erleben wir zum Beispiel, wie eine Passagierin und ihr Doppel sich in einer Fernsehshow präsentieren und was danach passiert …

Es gibt noch ein drittes Thema, das ich bisher noch nicht angesprochen habe. Es ist die Frage, wie die „Anomalie“ zu erklären ist. Dazu werden im Roman drei Thesen vorgestellt, von denen eine besagt, dass die Welt, wie wir sie erleben, nicht real ist, sondern dass wir alle Bestandteil einer Computersimulation sind.

Ich glaube, dass für Le Tellier alle drei Themen gleich wichtig gewesen sind. Man kann den Schluss des Buches sicher unterschiedlich interpretieren, aber für mich ist das Ende ziemlich eindeutig. Hier ist aber nicht der Ort, das mitzuteilen, weil ich keinem Lesenden die Freude nehmen will, zu einer eigenen Schlussfolgerung zu gelangen.

 

Fazit

Ein spannender, irrwitziger und zum Nachdenken anregender Roman über unsere Existenz mit einem kritischen Blick auf die Gesellschaft. 

                                                                       6 von 7

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