Klappentext
Jeden Morgen pendelt Rachel mit dem Zug in die Stadt, und jeden Morgen hält der Zug an der gleichen Stelle auf der Strecke an. Rachel blickt in die Gärten der umliegenden Häuser, beobachtet ihre Bewohner. Oft sieht sie ein junges Paar: Jess und Jason nennt Rachel die beiden. Sie führen – wie es scheint – ein perfektes Leben. Ein Leben, wie Rachel es sich wünscht.
Eines Tages beobachtet sie etwas Schockierendes. Kurz darauf liest sie in der Zeitung vom Verschwinden einer Frau – daneben ein Foto von ›Jess‹. Rachel meldet ihre Beobachtung der Polizei und verstrickt sich damit unentrinnbar in die folgenden Ereignisse …
Meine Meinung
Die große Stärke von „Girl on the Train“ sind die großartig ausgearbeiteten Charaktere der drei Perspektivfiguren. Die Hauptfigur ist die 33jährige Rachel. Ihr Leben ist eine Katastrophe, seit ihre Ehe mit Tom vor ein paar Jahren in die Brüche ging. Seitdem hat sie keinen Job und keine Freunde, vielleicht bis auf Cathy, bei der sie – jedoch eher aus Mitgefühl – in einem Zimmer zur Untermiete wohnen darf. Rachel trinkt, was zu einem großen Teil dafür verantwortlich ist, dass sie ihre Probleme nicht in den Griff bekommt. Das alles erfahren wir aber erst nach und nach. Im Folgenden gebe ich den ersten Abschnitt des Romans wieder, damit ihr einen Eindruck von der Hauptfigur bekommt.
Freitag, 5. Juli 2013 morgens
Da liegt ein Kleiderhaufen an den Gleisen. Hellblauer Stoff – vielleicht ein Hemd –, verknäuelt mit etwas schmutzig Weißem. Wahrscheinlich ist es nur Abfall, irgendetwas aus einem Müllsack, der heimlich in das zugewuchterte Waldstück oben am Bahndamm geschleudert wurde. Oder die Sachen wurden von einem Arbeiter dort liegen gelassen, die an dem Streckenabschnitt beschäftigt sind. Schließlich sind sie oft genug hier. Vielleicht war es auch ganz anders. Meine Mutter meinte immer, ich hätte eine zu lebhafte Fantasie. Tom meinte das auch. Aber ich kann einfach nicht anders, ich sehe ein paar liegen gebliebene Fetzen, ein schmutziges T-Shirt oder einen Schuh und muss sofort an den zweiten Schuh denken und an die Füße, die darin gesteckt haben.
In diesem ersten Absatz wird ein Thema angedeutet, das für Rachel zentral ist: die gescheiterte Ehe mit Tom, an der sie zerbrochen ist. Nun ist sie einsam, und ihre einzige Freude ist das Trinken, das ihr hilft, den Schmerz zu lindern und zu vergessen. Wobei das schlecht möglich ist, da sie jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit – diese Illusion hält sie vor Cathy aufrecht – an ihrer alten Wohnung vorbeifährt, wo Tom mit Anna wohnt. Beide sind nicht gut auf sie zu sprechen, weil sie des Öfteren während eines Rausches nachts bei ihnen anruft. Rachel missgönnt ihnen ihr Familienglück mit ihrer kleinen Tochter. Umso mehr wünscht Rachel dieses Glück Jess und Jason, so tauft sie das junge Paar, das ein paar Häuser weiter in derselben Straße wie Tom wohnt. Sie verfolgt täglich aus dem Zug, was die beiden auf ihrer Terrasse tun.
Eines Tages beobachtet Rachel etwas, das ihre Heile-Welt-Fantasie von Jess und Jason ins Wanken bringt. Jess küsst einen anderen Mann. Kurz darauf steht in der Zeitung, dass Jess, die eigentlich Megan heißt, verschwunden ist.
Je mehr Megan und Anna zu Wort kommen, umso deutlicher wird, dass deren Leben keineswegs perfekt ist. Wie Annas Welt aussieht, erfahren wir erst ab der Mitte des Buches. Megan hingegen erzählt von Beginn an, wie ihr Leben im letzten Jahr verlaufen ist. Ähnlich wie bei Rachel sind auch für sie Einsamkeit und gescheiterte Beziehungen wichtige Themen, wobei Megan klar ist, dass dies zu einem guten Teil ihre ‚Schuld‘ ist: Sie ist eine notorische „Fremdgeherin“. Genau wie Rachel passt Megan nicht in das klassische Gut-Böse-Schema. Beiden Frauen trauen wir gute wie schlechte Verhaltensweisen jederzeit zu.
Der Plot war für mich von vorne bis hinten schlüssig, obwohl er einige Sprünge aufweist. Diese erklären sich aber aus Rachels, vom Alkoholkonsum gesteuerten, sprunghaften Verhalten, das ich an einem Beispiel wiedergeben will. Am Tag, nachdem sie ›Jess‹ den fremden Mann hat küssen sehen, sorgt sie sich um deren Ehemann. Sie fühlt mit ihm mit, weil auch Tom sie zum Ende ihrer Ehe lange Monate mit Anna betrogen hat.
Samstag, 13. July, abends
Ich will Jason sehen.
Ich habe den ganzen Tag in meinem Zimmer verbracht und darauf gewartet, dass Cathy endlich geht, damit ich mir etwas zu trinken holen kann. Aber sie wollte einfach nicht. Unbeirrt und wie festbetoniert saß sie im Wohnzimmer, um »ein bisschen was von dem Papierkram wegzuschaffen«. Am Nachmittag ertrug ich die Enge und die Langeweile nicht mehr und erklärte ihr, dass ich spazieren gehen würde. Ich schlenderte zum Wheatsheaf, einem großen, anonymen Pub jenseits der High Street, und trank dort drei große Gläser Wein und zwei Jack Daniel‘s. Danach ging ich zum Bahnhof und kaufte mir ein paar Dosen Gin Tonic und stieg in den Zug.
Ich will Jason sehen.
Ich will ihn nicht besuchen. Ich werde nicht vor seinem Haus aufkreuzen und an die Tür klopfen, Weit davon entfernt. So verrückt bin ich nicht. Ich will nur an ihrem Haus vorbeifahren, im Zug daran vorbeirollen. Ich hab sonst nichts zu tun, und ich habe keine Lust, wieder nach Hause zu gehen. Ich will ihn einfach nur sehen. Ich will sie beide sehen.
Das ist keine gute Idee. Mir ist klar, dass das keine gute Idee ist.
Aber was kann es schaden?
Ich fahre bis Euston, dann drehe ich um und fahre wieder zurück. (Ich mag Züge, daran ist doch ncihts verkehrt, oder? Züge sind etwas Wunderbares.)
Früher, als ich noch ich selbst war, träumte ich immer davon, mit Tom romantische Zugreisen zu unternehmen. (Die Bergensbane zum fünften Hochzeitstag, der Blue Train zu seinem Vierzigsten.)
Augenblick. Gleich kommen wir wieder an ihremHaus vorbei.
Das Licht ist an, aber ich kann nicht mehr allzu gut sehen. (Weil alles doppelt ist. Ein Auge zumachen. Besser.) Da sind sie! Ist er das? Sie stehen auf der Terrasse. Das sind sie doch? Ist das Jason? Ist das Jess?
Ich will näher ran, ich kann von meinem Platz aus nichts erkennen. Ich will näher ran.
Ich fahre nicht nochmal zurück nach Euston. Ich steige in Witney aus. (Ich sollte nicht in Witney aussteigen, das ist viel zu gefährlich. Was, wenn Tom mich sieht – oder Anna?
Ich steige in Witney aus.
Keine gute Idee.
Eine verdammt schlechte Idee.
Ein Mann sitzt am gegenüberliegenden Fenster, sein sandblondes Haar hat einen leichten Stich ins Rötliche. Er lächelt mich an. ich will etwas zu ihm sagen, aber die Worte verpuffen, sie fliegen mir einfach von der Zunge, bevor ich dazu komme, sie auszusprechen. Ich kann sie schmecken, aber ich weiß nicht, ob sie süß sind oder sauer.
Lächelt er mich an, oder feixt er nur? Ich kann es nicht sagen.
Am nächsten Morgen kann sie sich an nichts erinnern. Sie weiß nur, dass etwas Schlimmes passiert ist, und am selben Tag liest sie in der Zeitung, dass Jess alias Megan verschwunden ist.
Der ambivalenten Hauptfigur geschuldet, ist es nicht immer einfach, sich mit Rachel zu identifizieren, was vielleicht das einzige Manko dieses Thrillers ist.
Fazit
Dieser düstere Thriller lebt von den drei ambivalenten Ich-Erzählerinnen, denen wir das Beste und das Schlechteste zutrauen, wenn wir an ihrem Alltag teilhaben. Paula Hawkins schafft es, sie uns trotz ihrer Schwächen nahe zu bringen und uns bis zu einem gewissen Grad mit ihnen zu identifizieren. Wer Hochspannung mag und vor schweren Themen nicht zurückschreckt, dem möchte ich diesen Thriller nur empfehlen.