Stefan Heiligtag

Tayari Jones – Das zweit-beste Leben

Realistisch und spannend erzählen zwei Schwestern, von denen nur eine weiß, dass die andere existiert, von ihrem Leben mit ihrem bigamistischen Vater.

Klappentext

James Witherspoon ist Chauffeur, lebt in Atlanta und ist mit zwei Frauen verheiratet. Chaurisse ist seine offizielle Tochter. Dana das zweite, geheime Kind. Beide Mädchen sind etwa im gleichen Alter und leben doch ganz unterschiedliche Leben. Denn während Chaurisse in einer scheinbar heilen Familie aufwächst, muss Dana um jede Anerkennung kämpfen und fühlt sich ständig zweitrangig. Als sich Dana und Chaurisse scheinbar zufällig über den Weg laufen, weiß nur Dana, dass sie nicht Fremde, sondern Schwestern sind.

Meine Meinung

Am meisten an diesem Roman hat mich beeindruckt, wie realistisch die Geschichte des Bigamisten James Witherspoon und seiner beiden Familien ist und wie spannend sie erzählt wird.

Die beiden Perspektivfiguren sind Dana, die nicht offizielle und Chaurisse, die anerkannte Tochter von James Witherspoon. Beide Mädchen lassen uns wissen, wie ihre Mütter mit James Witherspoon zusammenkamen, wodurch die Leser ganz nebenbei eine Menge über die kulturellen Bedingungen erfahren, die Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in den USA herrschten. Danas Mutter Gwen fühlt sich zum Beispiel genötigt zu heiraten, weil sie sich schon im letzten Jahr der Highschool befindet. Die Mutter von Clarissa muss heiraten, weil sie schwanger ist.

Gwen hat sich in eine schwierige Lage gebracht, als sie von James Witherspoon schwanger wird. Hier ist ein Textauszug, wie sie versucht, es dem Vater beizubringen:

Sie hatte Angst, meinem Vater zu sagen, dass sie vier Wochen überfällig war. Wie jeder weiß, gibt es nichts Schwierigeres, das man einem Mann sagen kann, selbst wenn es der eigene Ehemann ist, und mein Vater war der Ehemann einer anderen. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als ihm die Neuigkeiten zu erzählen und ihn entscheiden zu lassen, ob er geht oder bleibt.

Meine Mutter konnte die Worte vor lauter Angst nicht aussprechen, weshalb sie sie wie eine taubstumme Bettlerin auf ein Stück Papier schrieb. Während er las, stieg das Stottern so schlimm in ihm auf, dass er nicht einmal den Ansatz einer Antwort hervorbrachte. Meine Mutter rief ihm in Erinnerung, wie sehr er sich ein Baby wünschte. Laverne hatte sich schon ganze zehn Jahre unter ihn gelegt, aber ihm nicht geben können, was er sich am meisten wünschte. Meine Mutter hatte nur wenige Monate gebraucht. Dieses Baby war entschlossen, zur Welt zu kommen, es war trotz aller Vorsicht gezeugt worden. Meine Mutter sagte, ich sei Bestimmung.

Schließlich sagte er: »Du schenkst mir einen Sohn.«

James setzte sich auf die Verandaschaukel des Wohnheims und dachte nach. Sie konnte sehen, wie es in ihm arbeitete, wie er im Kopf alles noch einmal durchging. Er überlegte eine Weile und sah dann zu ihr rüber – nicht ins Gesicht, sondern auf den Bauch, auf mich. Mutter hat zugegeben, dass sie ein bisschen eifersüchtig war. Er konnte nur daran denken, dass er bald Vater sein durfte, dass er einen Junior bekommen würde.

Im ersten Teil tauchen wir in die Welt Dana Yaboro ein. Sie lebt mit ihrer Mutter zusammen und darf niemandem erzählen, wer ihr Vater ist, weil der noch eine andere, offizielle Familie hat. In vielen kleinen Szenen lässt uns Tayari Jones anschaulich und glaubwürdig erleben, dass Dana das Gefühl hat, Tochter zweiter Klasse zu sein. Dana will ›Naturwissenschaften‹ studieren, muss aber bei der Wahl ihrer Schule und bei den Fortbildungen Rücksicht auf Clarisse nehmen, denn ihr Vater verlangt, dass sie ihrer Schwester niemals begegnen darf. 

Nicht ganz eingeleuchtet hat mir, was die attraktive Glen Yaboro überhaupt dazu brachte, sich in James Witherspoon zu verlieben. Zwar wird von einer schleichenden Liebe erzählt, aber ich habe mich trotzdem gefragt, wieso sie sich in einen nicht sonderlich gut aussehenden, stotternden Mann verliebte, der bereits verheiratet war.

Als ich im zweiten Teil die Perspektive von Chaurisse Witherspoon kennenlernte, hätte ich an Danas Stelle nicht mit ihr tauschen wollen. Nicht nur, weil  Dana klüger und schöner ist, sondern auch, weil Chaurisse einen eintönigen  Alltag hat. Nach der Schule muss sie ihrer Mutter im Friseursalon helfen, aber sie hat weder eine beste Freundin noch einen großen Freundeskreis.

Allerdings kennt sie sich hervorragend mit Kosmetika und Haaren aus. Deshalb weiß sie sofort, dass das Mädchen, das in einer Drogerie eine Tube Nagelhautentferner in ihrer Tasche verschwinden lässt, wunderschönes, natürliches Haar hat. Und dass sie ein Silver Girl  ist, also eine natürliche Schönheit, die trotzdem noch eine Schicht ›Hübsch‹ aus dem Töpfchen aufträgt. Chaurisse kann nicht ahnen, dass es sich dabei um ihre Schwester Dana handelt; sie ahnt ja nichts von der zweiten Familie ihres Vaters. Die Autorin beschreibt die Begegnung der beiden 17jährigen Mädchen aus der Sicht von Chaurisse:

In dem Wissen, dass das Silver Girl zusah, ließ ich den Lidschattenstift in meine Tasche fallen; aus dem braven Mädchen wurde ein böses: »Hey.«

Das Silver Girl leckte sich die Lippen, blieb aber stumm. Sie sah so verängstigt aus, dass ich mich umblickte, um mich zu vergewissern, dass die Filialleiterin nicht dort stand. »Was ist?«, fragte ich … Sie starrte mit hochgezogenen Augenbrauen in meiner Richtung … Ich drehte mich um, bis ich sah, was sie sah: eine kleine Videokamera über den Nagelfeilen. »Oh«, sagte ich.

Die beiden sind clever genug, die geklauten Gegenstände zurückzulegen, bevor die Filialleiterin sie zur Rede stellt und auffordert, mitzukommen.

»Wir müssen nicht mitgehen«, sagte das Silver Gril und warf das Haar zur anderen Seite. »Wir haben nichts Verbotenes gemacht.« Noch ein Wurf der Wallenmähne – das war der passende Begriff. Haar wie aus dem Märchen. So hübsch, dass es mich in den Fingern juckte.

»Mach die Tasche auf«, sagte die Drogerie-Dame zum Silver Girl.

»Sie muss gar nichts machen«, warf ich ein. »Sie hat Bürgerrechte.«

»Haben wir beide«, sagte Silver Girl.

Clarisse fühlt sich geehrt, dass sich das Silver Girl nach der Begegnung ein paar Mal mit ihr verabred, do solche Mädchen normalerweise unter sich bleiben und  sich nicht mit durchschnittlich aussehenden Mädchen abgeben. Sie ahnt nicht, dass Dana vor allem mehr über ihren Vater und dessen Familie erfahren möchte.

Über den weiteren Verlauf der Geschichte will ich nur so viel sagen, dass es spannend und dramatisch wird. Eine klare Leseempfehlung.

Fazit

Tayari Jones versteht es wunderbar, die unterschiedlichen Lebensperspektiven der beiden Schwestern erfahrbar zu machen. Ich konnte mich bis zum spannenden Finale gut mit beiden identifizieren.

                                              5 von 7.

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