Stefan Heiligtag

Lisa Unger – Hüte dich vor deinem Nächsten

Thriller um eine Frau, deren Leben in Trümmern liegt und die alles dafür tut, das Geheimnis um ihren verschwundenen Mann aufzuklären.

Klappentext

Isabel und Marcus Raines sind das perfekte Paar. Seit fünf Jahren verheiratet und noch immer wie frisch verliebt. Doch dann kommt Marcus eines Abends nicht mehr von der Arbeit nach Hause, und Isabel kann ihn nicht erreichen. Sie fährt zu seinem Büro und gerät dort mitten in einen Einsatz des FBI. Kurz darauf erfährt sie das Unfassbare: Marcus Raines ist seit Jahren tot. Sie war mit einem Mann verheiratet, der ein anderer ist, als er vorgab zu sein. Eine gefährliche Suche nach der Wahrheit beginnt …

Meine Meinung

„Als ich meinen Mann zum letzten Mal sah, hing ein winziger Tropfen aus Himbeermarmelade in seinem blonden Spitzbart.“

Lisa Ungers detailreiche Sprache (das Zitat ist der Beginn von Kapitel 1) war das erste, was mir positiv an diesem Thriller aufgefallen ist. Die Autorin hat ein Talent, Orte, Situationen und vor allem Personen treffend zu beschreiben und zu charakterisieren: zum Beispiel Detective Jesamine Beslow:

Sie hatte etwas von einer Elfe, ihr kleines Gesicht war makellos geschnitten – eine süße Stupsnase, ein perfekter Kussmund, mandelförmige Augen. Sie wirkte strahlend, elektrisch, so als könnte sie, wenn wir das Licht ausschalteten, den Raum ganz allein erhellen. Ihre Fingernägel waren kurz und gepflegt, ihre Haare zu einem akkuraten Bob geschnitten. Ihre Kleidung war geschmackvoll und nicht billig, obwohl man den leicht glänzenden, schwarzen Blazer anmerkte, dass er schon zu oft in der Reinigung gewesen war.

„Hüte dich vor deinem Nächsten“ (engl. „Die for you“) ist ein spannend, obwohl der Klappentext uns das Wichtigste schon mitteilt: Isabels Mann ist nicht der, für den er sich ausgibt. Die Spannung resultiert zum einen daraus, dass zunächst unklar ist, wie schlimm die Vergehen von Marcus Raines sind und zum anderen, weil es mehrere Tote gibt und Isabel in lebensbedrohliche Situationen gerät. Außerdem wollen wir wissen, wie die betroffenen Personen mit dieser Situation umgehen, denn das Verschwinden ihres Mannes betrifft auch die Familie von Isabels Schwester Linda.

Konsequenterweise wird die Handlung deshalb aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt, von denen ich drei durchweg gelungen fand. Die Autorin schafft es, die Gedankenwelten von Detective Crowe und den Schwestern Linda und Isabel wunderbar einzufangen. So unterschiedlich sie als Personen sind, so ähnlich sind die Probleme, um die ihre Gedanken kreisen. In allen Fällen geht es um die Zerbrechlichkeit von Beziehungen in der Familie und darum, was sie trotz großer Vertrauensbrüche zusammenhält.

Die einzige Ich-Erzählerin Hauptprotagonistin des Romans ist Isabel Raines. Sie muss feststellen, dass sie mit einem Fremden zusammengelebt hat und dass Marcus Raines vermutlich ein Verbrecher ist. Denn der Mann, dessen Identität er gestohlen hat, ist unauffindbar, und die Morde nach seinem Verschwinden weisen auf Marcus als den Täter hin. Obwohl Isabel das klar ist, liebt sie Marcus immer noch, wobei diese Liebe angesichts der furchtbaren Entdeckungen, die sie im weiteren Verlauf macht, zunehmend in Frage gestellt wird.

Die Lebenssituationen von Isabels Schwester Linda und Detective Crowe spiegeln Isabels Lage, denn Crowe wurde von seiner Frau verlassen und Linda muss mit einem Vertrauensbruch ihres Mannes klarkommen. Sie kämpfen um das Glück in ihren Partnerschaften und Familien, was neben der Krimihandlung das eigentliche Thema des Buches ist. Mir haben die Beschreibungen dieser drei Lebensentwürfe gut gefallen. Um einen Eindruck von Ungers Stil zu geben, gebe ich als Beispiel Lindas Gedanken wider, nachdem Mann und Kinder die Wohnung verlassen haben.

Als die Tür ins Schloss fiel und alle Stimmen – normalerweise laut, lachend, albern, heute hingegen leise und gedämpft – mit dem Schließen der Aufzugtüren verstummten, konnte Linda endlich durchatmen. So ging es ihr immer, wenn die anderen das Haus verließen. Dann war sie keine Mutter und Ehefrau mehr, die fremde Bedürfnisse erfüllte, Gesichter abwischt, Pausenbrote schmiert, Fragen beantwortet, schimpft, delegiert, nervt, küsst, umarmt. Dann war sie nur noch sie selbst, dann konnte sie Kaffee trinken oder ins Badezimmer gehen, ohne dass ihr jemand hinterherrief. In dieser Zeit war sie am kreativsten – danach. Wenn sie wusste, dass die Kinder gut versorgt waren, konnte sie die Welt endlich so unbefangen betrachte, wie es für ihre Arbeit nötig war.

Obwohl mir der Thriller gut gefallen hat, bekommt er aus zwei Gründen nicht die volle Punktzahl:  Es wird zwar deutlich, wie wichtig es Isabel ist, herauszufinden, warum ihr Mann ihr all das angetan hat, aber, es hat sich mir nicht erschlossen, wieso sie sich deshalb mehrmals sehenden Auges in Todesgefahr begibt. Sie verhält sich wiederholt wie ein fünfjähriges Kind, das ihren Willen durchsetzen will, was ich für unrealistisch halte und von Unger vermutlich deshalb so gesetzt wurde, damit es spannender ist. Aus meiner Sicht wäre das nicht nötig gewesen.

Ein zweiter Schwachpunkt ist die vierte Perspektive, nämlich die von Marcus. Ich kann hier nicht ins Detail gehen, um nicht zu spoilern, aber so, wie er beschrieben wird – er hat eine kühle, fast kalte Ausstrahlung und Linda kann ihn deshalb auf Anhieb nicht leiden –, ist es für mich schwer nachvollziehbar, wie leicht es ihm immer wieder gelingt, Isabel und diverse andere Frauen zu unglaublichen Taten zu bewegen. Seine Persönlichkeit erscheint mir wie künstlich von der Autoren zusammengesetzt.

Fazit

„Die for you“ ist ein spannender Thriller, der um die Zerbrechlichkeit und die Fundamente von Beziehungen in Familien kreist. Isabel, der durch den Verrat ihres Mannes der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, kämpft darum, die Motive ihres Mannes zu verstehen. Trotz einiger Ungereimtheiten ist es ein absolut lesenswertes Buch.

                                                         5 von 7.

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